Habits
Empfang:
München, Holzstr. 7, 20:00 Uhr.Aus der Fensterfront im Erdgeschoss strömt Licht. Amöbenförmige Lichtkörper beleuchten anheimelnd den gepflasterten Hinterhof.
Zwei Freundinnen begrüßen die ankommenden Gäste: die Malerin, Charlotte Eschenlohr, und sleep artist, Florence Kan-Ti-Shan.
Es sind schon Gäste da, die sich in Grüppchen verteilen. Champagner wird gereicht. Es spielt Partymusik.
Der Raum:
Ein weißer Raum: An den Wänden Gemälde. Es handelt ich um eine Ausstellung von Charlotte Eschenlohr: Malerei auf Druck. Als Bildträger dienen großformatige, farbige Ausdrucke von klar strukturierten Collagen. Diese bestehen aus ca. vier rechteckigen Bildfeldern, die fotografische Abbildungen von Menschen oder Stadtlandschaften zeigen.
Ausgehend von diesen Motiven übermalt sie die Collagen in lockeren Pinselstrichen. Mal fährt sie die Konturen der Druckvorlage nach, mal setzt sie farbige oder lineare Akzente, oder ergänzt ein Motiv um weitere Details, wobei die Bilder in Teilbereichen ins Abstrakte tendieren. Die Farbe als Material und als Stimmungsträger fügt sich in einen Dialog mit dem sich darunter befindenden Druck. Zwischen gegenständlichen Details und abstrahierten Farbverwischungen erkennt man Frauenfiguren, Asiatinnen – und, wie Florence später betont: Freundinnen.
Im Zentrum des Raums befindet sich eine Fläche aus 35 zusammen geschobenen quadratischen Sitzblöcken in Pastellfarben, die von den Gästen als gemeinsame Sitzwiese vereinnahmt werden. Von da aus fällt der Blick zurück auf die Gemälde.
Florence, die Schlafkünstlerin, nennt die Sitzfläche „Bett“ als Ort des Schlafes, des Traums und der Berührung mit dem Unterbewussten.
An der Decke kriechen Lichter in hellem Grün: leise, beständig, ein eigenes Leben. Manchmal halten sie inne, dann wandern sie die Deckenpfeiler entlang, an der Rückwand herab und hinauf und flimmern taghell, gleich Sonnenreflexen durch Laub, über die Rahmen der dunklen Fenster zum nächtlichen Garten. Dort leuchten zwei amöbenförmige große Laternen aus der Schwärze, die hin und wieder erlöschen, um sogleich wieder aufzuscheinen – ein eigener langsamer Rhythmus aus Licht, der die Illusion autarker Wesenhaftigkeit erzeugt.
Parallel zum Bett steht als Raumteiler zum Entrée eine Projektionswand, dir zwei identische Schwarz-Weiß- Aufnahmen eines chinesischen Wohnzimmers zeigt. Wie Florence erklärt, handelt sich um eine Homage an die Anfänge der Beziehung Charlottes zu China, bzw. eine Beschwörung der Erinnerung – die schon ein bisschen im Dunkeln liegt: Die Projektion spielt auf Charlottes Kindheit an und auf ihre große Affinität zu ihrer viel gereisten Großmutter, die dem Kind vom fernen Osten berichtet hat: So wurde China für Charlotte zum ersehnten Ort, und so begann sie schon als junges Mädchen eine Chinoiserie um sich aufzubauen.
Die Projektion weckt also die Erinnerung an Charlottes Kindheit. Zugleich fordert die Projektion eines detailreichen, hoch kultivierten Raums in schwarz weiß auf Grund ihrer farbigen Unvollkommenheit die Vorstellungskraft des Betrachters ein, der per se versucht, Gesehenes zu erkennen und seinem inneren Bilder- und Erfahrungsschatz anzugleichen.
Ähnlich verhält es sich mit einem Din-a 4 Blatt, das an einem Pfeiler hängt. Es zeigt – gleich optischen Übungen - weiße Formen auf schwarzem Grund, deren Umrisse leicht als Hund, oder Mensch etc. zu identifizieren sind. Bekannte Objekte also, deren innere Details im Augenblick des Betrachtens in der Vorstellung durch den Betrachter ergänzt werden.
Während Charlottes Bilder, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, Geschichten erzählen und angefüllt sind mit Dingen und Personen, ist der Raum ansonsten voller leerer oder durchsichtiger Dinge, die am Beginn einer Entwicklung zu stehen scheinen: „Fade“ nennt es Florence und meint damit die Ruhe und Leichtigkeit als ideale Grundlage für Wandel und Entwicklung: das leere, pastellene Bett: „babyfarben“ / die durchscheinende Amöbe als ein Wesen im Anfangsstadium der Existenz /die leeren auf Vervollständigung drängenden Schwarz-Weiß Formen auf dem Papier / die nach imaginierter Kolorierung verlangende Schwarz-Weiß Projektion, die zugleich Kindheitserinnerung ist / und das grüne Licht, das an einen Garten und an pflanzenhaftes Wachstum erinnert. Alles impliziert die Möglichkeit zur Entwicklung, oder fordert eine gedankliche Ergänzung ein. Insbesondere das Bett und die Schwarz-Weiß-Bilder verführen den Besucher das Objekt durch unmittelbare Aneignung zu verändern.
Die durchdachte Inszenierung der Schlafkünstlerin ist also unaufdringlich, die Intention bleibt unbemerkt. Sie erzeugt jedoch eine angenehme Stimmung und „aktiviert“ die Gäste. Und sie reflektieren die Bilder von Charlotte Eschenlohr.
Overtüre: über das Bett und die Freundschaft
In einer Ansprache stellen sich die Künstlerinnen als Freundinnenn vor: Es handele sich bei der abendlichen Veranstaltung um ein gemeinsames Projekt.
Florence erläutert den Gästen die Bedeutung des Bettes: Es stelle ein Piktogramm dar: eine Einheit aus 35 Hockern, ein Ort der Zusammenkunft, der 35 Einzelpositionen vereint.
Dass sie das Piktogramm auch in Bezug auf ihre sleep art „Bett“ nennt, sagt sie nicht: In ihrer Ansprache verrät sie jedoch, dass sich die beiden Freundinnen im Zuge Ihres Wunsches ein gemeinsames Projekt zu machen, entschieden hätten „NICHTS“ zu tun, denn „das erhöhe die Spannung.“
Sie verrät jedoch nicht, dass das Konzept der sleep art unter anderem darin besteht, unbemerkt, also gewissermaßen „aus dem Nichts“ eine Atmosphäre zu schaffen, die uns füreinander öffnet – und die uns wie im Schlaf Wege zu unserem Inneren bereitet. Sleep art ist die von Florence entwickelte Kunstform, mittels derer sie versucht unbemerkt positive Energie fließen zu lassen und Impulse, „Injektionen“ zu geben, bzw. Kommunikation zu fördern. Dabei thematisiert Florence bei ihren Veranstaltungen bestimmte Begriffe, die sie atmosphärisch untermauert.
Das Thema des heutigen Abends ist die Freundschaft von Florence und Charlotte: Charlotte, die Malerin, lädt Florence, die Schlafkünstlerin großzügig ein, den Abend in ihrem Atelier zu gestalten. Florence ihrerseits nutz den Abend für eine Homage an Charlotte.
Charlottes Bilder stehen im Vordergrund. Für Charlottes Freundin, Florence, handelt es sich bei den Gemälden um „szenische, assoziative Bilder“, die auf eine „asiatische Art“ Gefühle nonverbal zum Ausdruck bringen, auf eine für die chinesische Kunst typische „leichte, fröhliche, kindliche“ Art . Florence habe in Charlotte und ihren Bildern mit ihren Schwingungen und ihrem Farbspiel, „viel chinesische Kraft“ entdeckt. Charlottes Collagen hätten Florence einen profunden Zugang zu ihrer eigenen Kultur“ eröffnet.
So habe Florence, die selbst aus Vietnam stammt, in Charlottes Bildern ihre eigene Kindheit entdeckt. Und wie bei Charlotte, so stellt Florence fest, sind auch ihre eigene Kunst und ihr Leben, ihre „habits“ (unbewusst) von einer schon in der Kindheit entwickelten Asiensehnsucht geprägt. Darin liegt der gemeinsame rote Faden der beiden Frauen, und darauf basiert ihre gegenseitige Zuneigung, ihre „Freundschaft, als eine heilige Verbindung“.
Beide, so Florence, hätten sich erkannt. Zugleich ist ihre Beziehung auf künstlerischer Ebene fruchtbar, und regt beide Künstlerinnen gegenseitig an: sie ist ein Geben und Nehmen.
Diese besondere Künstlerinnenfreundschaft soll an diesem Abend mit „Habits“in einer gemeinsamen Aktion zum Ausdruck kommen, verdichtet als Mitteilung an die Gäste.
Charlotte macht diesen Abend möglich. Florence reagiert, indem sie Charlotte und ihre Bilder inszeniert. Zugleich bleibt diese Inszenierung – ihre sleep art – als eigene künstlerische Leistung im Hintergrund und ist eher „spürbar“. Dabei greift sie das auf, was die beiden Freundinnen emotional sehr stark verbindet: ihre Sehnsucht nach der asiatischen Kultur, womit Florence ihre Kunst in einen Zusammenhang mit den Bildern von Charlotte setzt.
Florence, in Vietnam geboren, ist die asiatische Kultur als Kind weggenommen worden.
Charlotte hat sie als Kind aus der Ferne durch die Erzählungen ihrer Großmutter kennen und lieben gelernt. Und so stellt sie für beide Künstlerinnen einen Ort der Sehnsucht und einen Ort der (inneren) Zuflucht dar, aus dem sie kreativ schöpfen. Dieser Geist ist für Florence in den Gemälden Charlottes deutlich spürbar. Und beide, so Florence, wurden auf Grund dieser geteilten Begeisterung zu Komplizinnen. Das ist es, was Florence an diesem Abend zeigen möchte. Dafür steht konkret die Projektion des asiatischen Wohnzimmers, und auch die später servierten asiatischen Speisen. Inhaltlich spiegeln aber auch die Motive des Beginns und des Ursprungs die Freundschaft und die gegenseitige Inspiration der beiden wieder: Eine Beziehung, die ein beidseitige Entwicklung ermöglicht.
So wabern später durchscheinende Amöben durch die Wohnzimmerprojektion und nehmen dort auf den asiatischen Sitzgelegenheiten Platz. Junges nimmt auf alten Sitzen platz. Eine Freundschaft, die sich gegenseitig inspiriert und zu Neuem bereit ist (Amöbe) basiert auf einer von beiden bereits in der Kindheit entwickelten Affinität zur asiatische Kultur (Wohnzimmerstühle).
Zugleich symbolisiert die Amöbe die asiatische Vorstellung vom Menschen als Gefäß, das offen ist für das was kommt.
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Über die individuelle Freundschaft der Künstlerinnen hinaus geht es an diesem Abend auch um Freundschaft im Allgemeinen, um gegenseitigen Inspiration, um Geduld und Vertrauen als Voraussetzung für Freundschaft („Ich weiß, die Freundin wird pünktlich um 3:05 erscheinen. - Wenn auch drei Jahre später als erwartet.“)
Das Piktogramm aus den zusammen geschobenen 35 Hockern zielt ebenfalls auf das Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen ab. Auch Freundschaft könnte man als Einheit Einzelner bezeichnen.
Dann werden die Gäste angehalten – nun bewusst als gemeinsame Aktion, oder als Ritual einer gemeinschaftlichen Handlung – das Bett, den Ort der Zusammenkunft, den Ort der Freundschaft und des Austauschs, in 35 Einzelpositionen aufzulösen, um sie zu neuen kleinen Gruppen zusammenzustellen. Das Bett als Symbol für Schlaf, für einen Traumzustand, in dem Tabus nicht verschwiegen werden, in dem alles in der Tiefe einer Person zum Vorschein kommen kann, aus diesem „Stoff“ machen sich die Gäste ihren Sitz, (bzw. ihre Grundlage), um kleine Gesprächsgruppen zu bilden.
Damit geht die Gesellschaft nach der Overtüre zum 1. Akt des Gastmahls über.
1. Akt: Die Appetitanreger
Frühlingsrollen und andere kleine Häppchen werden gereicht, die in ihrem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Zutaten eine verführerisches, wohlschmeckend Einheit ergeben – einzelne Aspekte lassen sich herausschmecken. Ähnlich verhält es sich mit den kleinen Gesprächsgruppen, die jede für sich eine Einheit aus unterschiedlichen Teilnehmern darstellen.
Der gemeinsam erlebte Abend, die Bilder, die Inszenierung, die Rede, das Essen, bietet unmittelbar Gesprächsstoff, der inhaltlich auf das Thema „Freundschaft“ hinaus läuft.
2. Akt: Feuertopf
Dann werden (endlich) die angekündigten Tische für den 2. Gang herein getragen. Florence hatte um Geduld gebeten, was in bewusster Korrespondenz mit den kriechenden Lichtern und den langsamen Amöben steht, um eine Entschläunigung zu erzielen, und um auf die Notwendigkeit von Geduld und Vertrauen hinzuweisen– den Essenzen der Freundschaft.
Zudem kann das Warten als „leere“ Zeit frei gefüllt werden, anders als in effektiv durchgeplanten Zeitabläufen: wieder das Motiv der Leere.
Die Tische werden eigens herein getragen und so zum Höhepunkt des Abends inszeniert: Drei Tafeln, als Ort der Gemeinschaft, als Ort des Gesprächs und der Zusammenkunft, werden aufgebaut. Sie sind amöbenförmig, und greifen symbolisch wieder das Thema vom Beginn einer Entwicklung (von Freundschaften?) auf. Die geschwungene Form liefert mit dem Symbolgehalt auch eine praktische Parallele: Sie fördert die Tisch übergreifende Kommunikation.
Der angekündigte Feuertopf besteht in einer hellen Brühe. Dazu wird eine große Variation von mundgerecht zubereiteten Speisen serviert, die mit Spießen im Feuertopf gebrüht werden sollen. Wie die Abendgesellschaft ist das Essen vielseitig. Dann wird es gemeinsam zubereitet – im selben Topf zu einer Suppe.
Die gekochten Häppchen werden allerdings wieder aus der Brühe heraus genommen. Kleine Töpfchen, die mit verschiedenen Soßen gefüllt sind, laden nun zu einer individuellen Zubereitung an.
Immer wieder trifft der Gast in der großen Auswahl von Happen auf etwas „Fades“, puren Tofu etwa, als eine kulinarische Denkanregung über die Wandelbarkeit des Faden bzw. über das ihm innewohnende Potential zur Entwicklung. Und so trägt jeder - als Gast wie als Kocheinen (verbalen oder essbaren) Beitrag bei, der gemeinsam (in der Tischrunde / oder im Topf) zubereitet wird, um schließlich individuell (emotional-gedanklich / oder mittels von Soßen) aufbereitet wird, um (gedanklich / oder biologisch) verdaut zu werden. Jeder kreiert sich aus dem gemeinsam Gekochten ein eigenes Ergebnis – jeder zieht aus dem gemeinsamen Gespräch seine individuellen Schlüsse. Und - wie bei dem Bett aus pastellenen Hockern- sind wir eine Einheit aus 32 Individuen.
All dies steht am Anfang von etwas, das noch kommen kann. Was, das bleibt offen. Florence thematisiert das Potential zum Wandel. Dabei entwirft sie keine Theorien, mit denen sie die Gäste konfrontiert, sondern erzeugt auf eine wie sie sagt „asiatisch pragmatische (also lebensnahe) Art“ eine Situation, mit der sie die Möglichkeit zum Wandel spürbar macht. Sie ist eine Rechnerin der Sinne, ihre Kunst ein berechneter „hypothetischer Wurf“ in die Zukunft.
Zuletzt steht dieser Abend, der der Freundschaft und dem Beginn von Neuem, gewidmet ist, selbst am Anfang einer Reihe von weiteren Abenden als Ausgangspunkt einer Entwicklung.